78 Zum Wesen der Kunst.

. . . am östlichen Fenster
erscheint Ernst zur Nachtzeit die schmale
Wandergestalt des Gefühls.[1]

Ernst ruft: «Bentornato, Toni!» Und Toni: «Grazie mille dell’invito!» Ernst fragt: «Sollen wir gleich weiterfahren?» Toni nickt erwartungsvoll und Ernst liest:

Doch als die Zweihundertunddreiundsiebenzigste Nacht anbrach, fuhr Schehrezâd also fort: «Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, dass die Grossen des Reiches jenem König alles boten, was sie an Geld und Schätzen besassen, damit er die besagte Burg nicht öffne; aber er liess sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, sondern riss die Schlösser herunter, öffnete das Tor und fand in der Burg Bildnisse von Arabern: die waren beritten auf Rossen und Kamelen, trugen Turbanbinden, die bis auf ihre Hüften herabhingen, waren mit Schwertern gegürtet und hielten Lanzen in der Hand. Auch fand er dort ein Schriftstück, auf dem geschrieben stand: ‹Wenn dieses Tor geöffnet wird, so wird eine Araberschar dies Land erobern, die genau so aussieht wie in diesem Bildnis; drum hütet euch, und noch einmal hütet euch, das Tor zu öffnen!› Nun lag jene Stadt in Andalusien, und in eben jenem Jahre, unter dem Kalifen el-Walîd ibn ’Abd el-Malik fiel sie in die Hände des Târik ibn Zijâd. Der bereitete jenem König einen schmählichen Untergang, plünderte sein Land, nahm Frauen und Kinder gefangen und machte grosse Beute an Geld und Gut. Und die Araber breiteten sich in den Städten Andalusiens aus, das eines der herrlichsten Länder ist. Dies ist der Schluss der Geschichte von der Stadt Lebta.»[2]

Toni sagt: «Eine schöne Erzählung, aber was hat sie mit Ernst zu tun?» Ernst sagt: «Noch eben sind die Krieger nichts weiter als Bildnisse, dann wird das Tor geöffnet, man hört Pferde wiehern und sie überfallen die Stadt.» Toni will etwas einwenden, aber Ernst rückt mit Ernsts linker Hand Ernsts Armbinde zurecht und sagt: «In dem Augenblick, wo Ernst den Text vom Drachen liest, fliegt der Lindwurm durch das geöffnete Fenster der Bibliothek und verbrennt Ernst.»

Toni haut mit der Faust auf die Balkonbrüstung und ruft: «Auf der einen Seite sind Kunst und Imagination, auf der anderen Seite ist die Realität mit den Exceltabellen! Das hat doch schon Brian Deselby gesagt, als er gegen diesen RS wetterte.»[3] Aber da haut auch Ernst (mit Ernsts noch intacter, linker Faust) auf die Brüstung und ruft: «Vorsicht! Die Kunst spielt sich nicht in der Imagination ab, sondern liegt im Spannungsfeld zwischen dem, was zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort denkbar ist und dem, was wirklich ist. Gute Kunst ist Hochspannung, die zusammenbricht, wenn Imagination und Realität kurzgeschlossen werden.»

Toni blickt verloren vor sich hin. Da sagt Ernst: «Wenn es elektrischem Strom möglich ist, zwischen den beiden Polen einer elektrischen Quelle zu fliessen, ohne dass ein Gerät dazwischen ist, spricht man von einem Kurzschluss. In der Regel fliegt dann die Sicherung raus und wir sitzen im Dunkeln. Dieses ‹Gerät dazwischen› heisst ‹Kunst›.»

Ernst und Toni schauen schweigend in die Nacht hinaus. Dann sagt Toni: «Die Geschichte von der Stadt Lebta illustriert also, weshalb Ernst jetzt mit einem bandagierten Arm im Dunkeln sitzt? Ernst hat die Spannung zwischen Lektüre und Realität nicht ausgehalten, so ist es, nicht wahr?» Ernst nickt, allerdings so schwach, dass Toni unsicher ist, ob Ernst seine Frage bejaht hat oder nicht.

Dann stehen sie auf und Ernst sagt: «Ernst hofft, dass Toni bald wieder vorbeikommt. Die Gespräche, die Bilder, die Filme – das sind ‹Spielzeuge für Ernsts Seele›[4], Spielzeuge, die Ernst braucht, um Ernsts Lebensgeister wach zu halten und Ernsts Unfall zu vergessen. Merci Toni, à bientôt!» Und Toni: «The pleasure was entirely mine! Grazie Ernst, a presto!


[1] Paul Celan, Mohn und Gedächtnis, Der Sand aus den Urnen, Dunkles Aug im September

[2] Die Erzählungen aus den 1001 Nächten, 273. Nacht, nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahre 1839, übertragen von Enno Littmann

[3] Episode 67

[4] Episode 23