58 Ernst wird zu einer Filmvorführung eingeladen.

Ernst hat das Gefühl, im Schlaf einen furchtbaren Kampf ausgefochten zu haben und ist nahe daran, schon vor dem Aufstehen zu capitulieren.

Ernst erinnert an einen angeschlagenen Boxer, der sich mit dem Gong torkelnd in die Pause rettet, in der Ecke gepflegt wird und dem Ernsts Coach, «Come on Ernst! Ernst’ll make it!» zuruft. Und das Publikum klatscht, um Ernst Mut zu machen – und wohl auch, weil es ja gerne sehen will, ob der geschwächte Ernst nochmals auf die Beine kommt und Ernsts Schicksal besiegt. Jedenfalls mag einstweilen niemand den Match beenden. Sicher wird es aber für Ernst schwer werden, zurückzukommen. Doch die Hoffnung aufgeben, das will niemand so recht. Auch Ernst nicht. Eines steht allerdings fest: Ernst braucht Hilfe und Pflege. An einer Medienconferenz versichert Ernst, Ernst werde alles daransetzen, damit Ernsts Absturz der letzte bleibe.[1]

Am späteren Nachmittag kommt das sinkende Gefühl und Ernst sieht Ernst einem Berg von Süssigkeiten gegenüber. Ernst steigt schnell auf eine Leiter und sieht den Candy Mountain zu Ernsts Füssen. Die erste Attacke ist somit erfolgreich abgewehrt. Doch dann erhebt sich aus dem Berg eine Stimme:

Ernst bleib’ doch einfach wie Ernst ist,
Ernst muss nicht hungern, wenn Ernst gerne isst.
Das Mass aller Dinge ist nicht Ernsts Gewicht,
es ist Ernsts Charakter, der für Ernst spricht.[2]

Um dem Schlager nicht zu erliegen, flüchtet Ernst in die Klosterbibliothek, wo Ernst den Band mit der Vogelpredigt aufschlägt.

Wie Franziskus schon ziemlich nahe bei den Vögeln ist und sieht, dass sie ihn erwartet haben, grüsst er sie in höflicher Einfalt: «Fratres mei volucres, multum debetis laudare Creatorem vestrum et diligere semper! ­– Meine Brüder Vögel! Gar sehr müsst Ihr Euren Schöpfer loben und ihn stets lieben! Da Ihr weder zu spinnen, noch zu nähen versteht, gab Gott Euch Gefieder zum Gewand und Fittiche zum Flug. Ihr sät und erntet nicht und doch schützt und leitet Euch Gott, ohne dass Ihr Euch um etwas zu kümmern braucht. Deshalb, meine Brüder Vögel, hütet Euch vor der Sünde der Undankbarkeit und dem Laster der Gefrässigkeit, sondern strebt allezeit danach, Gott zu lieben und ihn mit Eurem Gesang zu preisen. Amen.»[3]

Ernst ist nicht gläubig und wird es – so Gott will – auch nicht werden. Aber dass der heilige Franziskus die Vögel vor dem Laster der Gefrässigkeit warnt, kann doch nur so viel heissen, dass die Völlerei schon zur Zeit des hochseligen Vaters eine ernste Gefahr gewesen sein musste. Nicht umsonst ist sie eine der 7 Todsünden. Ernsts Misere steht also in einer ehrwürdigen Tradition und verdiente es der Grammatik, Dialektik und Rhetorik als Culinarik angefügt zu werden.

Justgenauda geht die Tür auf und der Abt sagt: «Der Nachmittag auf Ernsts Balkon will mir nicht mehr aus dem Kopf.» Ernst fragt: «Die Hummeln?» Und der Abt: «Ist es möglich, dass Ernst mit dem Essen Probleme hat, weil Ernst zu stark in Ernsts eigener Welt lebt?» Ernst sagt: «Aber tun das nicht alle?» Und der Abt: «Ernsts Welt ist offensichtlich so überwältigend, dass Ernst darob immer wieder das Essen vergisst. Ernst ist ein Ausländer (ich nehme an, Ernst weiss, dass dieses Wort mit Elend verwandt ist), ein Fremder, der, sobald er seine Eremitage verlässt, mit der Welt der anderen confrontiert und jäh aus seinen Tagträumen gerissen wird. Es liegt deshalb auf der Hand, dass Ernst immer wieder in unsere Bibliothek flüchtet.»

Ernst erkundigt Ernst, ob das auch auf den Abt zutreffe. Der Abt wird nachdenklich und sagt con moto: «Ja, die Literatur bedeutet mir viel, und hat mir oft geholfen, schwere Zeiten durchzustehen.» Und dann fügt er an: «Weiss Ernst eigentlich, dass wir an der Tagundnachtgleiche eine Filmvorführung haben? hier in der Klosterbibilothek, um 11 Uhr, mit anschliessendem Mittagessen im Refektorium.» Ernst ruft: «Eine Filmvorführung?» Und der Abt: «Toni – Ernst kennt ihn doch, nicht wahr? – Toni hat einen Film gemacht: Le songe de la maison bleue, wobei es anscheinend nicht klar ist, ob es das Haus ist, das von Toni träumt, oder ob es Toni ist, der vom Haus träumt. Es würde mich freuen, wenn Ernst auch käme.» Ernst kann es kaum glauben und verspricht, Ernst zur gegebenen Zeit in der Klosterbibliothek einzufinden.

Ernst schlendert nachdenklich zu Ernst Eremitage und murmelt vor Ernst hin: «… nicht klar, ob es das Haus ist, das von Toni träumt, oder ob es Toni ist, der vom Haus träumt.» Dann steht Ernst still und ruft: «Aber das ist doch eine Anspielung auf den Schmetterlingstraum.»

Ich, Zhuāng Zhōu, träumte einst, ich sei ein Schmetterling, ein hin und her flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Zhuāng Zhōu. Plötzlich wachte ich auf, und da lag ich wieder ‹ich selbst›. Nun weiss ich nicht: War ich da Zhuāng Zhōu, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder bin ich jetzt ein Schmetterling, der träumt, er sei Zhuāng Zhōu.[4]


[1] Wie ein angezählter Boxer, NZZ, 7. März 2014

[2] https://www.youtube.com/watch?v=rHYzjppbBKg

[3] Die Vogelpredigt des hl. Franziskus von Assisi (1215), übersetzt von Oktavian Schmucki

[4] https://www.oai.de/de/64-ostasienlexikon/sss/1911-schmetterlingstraum.html