55 Wie Ernst wieder zu Kräften kommt.

The only way to get rid of temptation
is to yield to it.[1]

Ernst probiert den Citronencake, den Frater Felix heute Morgen gebacken hat. Frater Felix ruft: «Extra für Ernst, mit Citronensaft getränkt!» Da Ernst weiss, dass die Grossmutter des Kochs Holländerin ist, sagt Ernst: «De cake smaakt onbeschrijflijk goed.» Und Frater Felix: «Eigen haard, is goud waard.»[2] Wie Ernst Ernst ein zweites Stückchen genehmigt, sieht Ernst über dem Honigtopf einen Spruch.

kirst, imbi ist hûcze
nû fliuc dû, vihu mînaz, hera
fridu frôno in munt godes
gisunt heim zi comonne

sizi, sizi, bîna
inbôt dir sancte maria
hurolob ni habe dû
zi holce ni flûc dû
noh dû mir nindrinnês
noh dû mir nintuuinnêst

sizi vilu stillo
uuirki godes uuillon

Frater Felix, der Ernsts Augen gefolgt ist, intoniert:

Christ, die Imbi sind aussen,
nun flieg du, mein Vieh, heran,
im Frieden des Herrn, im Schutz Gottes,
gesund heim zu komme.

Sitz, Biene, sitz,
gebietet Dir heilig Maria.
Urlaub nicht hast Du,
zum Holz nicht fliegst du,
noch du mir entrinnst,
noch dich mir entwindst.

Sitz vielmehr still,
wirke Gottes Will.[3]

Dann liest Frater Felix das Menu für das Nachtessen vor: Wahlweise die neue Knorrsuppe Anolini in brodo oder die Kartoffelsuppe nach Emmentaler Art mit gerösteten und leicht gesalzenen Brotwürfeli (Ernst findet, dass sie in der Suppe schnell zu matschig werden und isst sie lieber separat), geschmorter Rindsbraten mit Rosmarin und Steinpilz-Dörrtomaten-Sauce, Kartoffelstock, gedämpfte Karotten an einer Zwiebelsauce und zum Dessert Lavendel-Himbeer-Tiramisu mit Mascarpone oder Crème brûlée (mit der Caramellschicht, die Ernst so sehr schätzt, denn – Hand aufs Herz – gibt es etwas Aufregenderes als das feine Klirrklirr, wenn der Dessertlöffel die Zuckerkruste einer gebrannten Crème durchbricht?), kurzum: An der Seite des Klosterkochs fühlt Ernst Ernst wie der verlorene Sohn, der ins Haus seiner Eltern zurückgekehrt ist.

Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: «Bringet das beste Kleid erfür vnd thut Ernst an vnd gebet Ernst einen Fingerreiff an Ernsts hand vnd Schuch an Ernsts füsse vnd bringet ein gemestet Kalb her vnd schlachtets. Lasset vns essen vnd frölich sein.»[4]


[1] Du willst die Versuchung loswerden? Gib ihr nach! Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray, Übersetzung Ernst

[2] Eigener Herd ist Goldes wert.

[3] Lorscher Bienensegen, Übersetzung aus dem Althochdeutschen Ernst

imbi = die Bienen (Im-ker = der mit dem Bienen-korb); vihu (das Vieh) = der Bienenschwarm, der hûcze = hinaus(geflogen) ist; frôno = Gott, der Herr (Frondienst = Dienst für den Herrn); munt = Schutz (Vormund); holce = Wald, Unterholz; nintuuinnêst, uuirki, uuillon: uu = w, also: entwinden (fliehen), bewirken, Wille.

[4] Lukas 15.22-23, Übersetzung Martin Luther, 1545, Letzter Hand