75 Ernsts Ausflug zum ‹Goldenen Hecht›.

Ernst tippt mühsam:

Nach allem, was Ernst in der letzten Zeit durchgemacht hat, hat da Ernst nicht wieder einmal das Anrecht auf 1 Festessen? un pranzo di gala, une bouffe à grande échelle?

Ernst schlendert also zum Fluss hinunter, zweigt nach links ab, schlendert am Haus des Dentisten vorbei und kommt – es ist unterdessen schon fast gänzlich dunkel geworden –, kommt im Schutz der Nacht zum ‹Goldenen Hecht›, wo man Ernst als altbekannten Gast willkommen heisst. Der Chef de Service führt Ernst zu Ernsts Tisch und räumt die Serviette und die Blumen ab, denn er weiss, dass sein Gast keine Serviette und beim Essen auch keine Blumen mag und da Ernst ein passionierter Teetrinker ist, nimmt er schnell und discret auch die Weingläser von Ernsts Tisch.

Nach der Vorspeise greift Ernst zu Ernsts Notizblock, aber Ernst kann mit Ernsts lädiertem Handgelenk nicht einmal das Datum notieren. Ernst ruft deshalb den Chef de Service und schildert ihm, wie Ernst die Vorspeise gemundet hat. Der Chef de Service schreibt in der ihm eigenen, blumigen Ausdrucksweise:

Das Entrée ist reine Poesie und schmeckt Ernst fabelhaft. Vor allem das Croustillant von Borretschblüten auf Rosenblütencouscous mit Erbsschotentatar, glasierten Pfifferlingen und Ebereschenchutney haben es unserem Gast angetan.

Nach der Vorspeise trinkt Ernst einen Anji Baicha und schildert Ernsts culinarische Sinneseindrücke, die der Chef de Service wie folgt wiedergibt:

Die wie ein Carpaccio aufgeschnittene Flussbarbe hat einer der Köche unterhalb der Stromschnellen selbst geangelt. Ernst hat da Zweifel und sagt: «Se non è vero è ben trovato.» Hauptsache ist: Sie schmeichelt Ernsts Gaumen in schmelzend-zarter Konsistenz mit leicht bitter-süssen Kressekapern, kandierten Hagebutten und frisch ausgebrochenen Bachkrebsen (aus dem Allmendingerwald), gegart in Courtbouillon.

Jetzt bestellt Ernst einen Taiping Houkui und macht Ernst an den Hauptgang, der vom Chef de Service folgendermassen transcribiert wird:

Die Krönung jedoch ist der Charolais-Ochse von der presqu’île Saint-Pierre. Das im Vakuumierverfahren gegarte Filet hat durch die auf der Halbinsel gesammelten Pfifferlinge noch an Finesse gewonnen und die mit Lavendel und Bärwurz confierten Bäckchen sowie die kraftvolle fondgestützte Sauce sind Ernsts Meinung nach das culinarische Highlight des Abends.

Der Chef de Service erkundigt sich nach Ernsts Abenteuern und Ernst erwähnt unter anderem Ernsts Gang zur 1’000 jährigen Eibe. Ernst erzählt, dass Ernst Madame Debienne gegenüber habe schwören müssen, dass Ernst nie wieder eine Eibenbeere essen werde. Der Chef de Service fragt: «Und das hat Ernst gemacht?» Ernst sagt: «Eibenbeeren können Pferde töten.»[1] Der Chef de Service lächelt und sagt: «Der Kern der Eibenbeere ist hochgiftig, das rote Fruchtfleisch jedoch schmeckt wunderbar und ist überhaupt nicht toxisch.» Und Ernst: «Genau das hat Ernst auch gesagt, aber Madame Debienne war unerbittlich und so hat Ernst schliesslich den Eid abgelegt.» Der Chef de Service fragt, ob Ernst beim Eid einen Gott angerufen habe. Ernst sagt, Ernst habe Ernsts Urgrossmutter Anna Elisabeth angerufen und geschworen, Ernst nie wieder auch nur die kleinste Eibenbeere in Ernsts Mund zu stecken. Da ruft der Chef de Service: «Eigentlich wollte ich Ernst zum Dessert die Crème d’avocado vorschlagen mit Bittermandel und eingelegtem Weinbergpfirsich, aber jetzt empfehle ich Ernst unsere geeisten Eibenbeeren mit einer Mohn-Pannacotta, garniert mit ein paar Splittern unseres hausgemachten Nougats, was Ernsts Besuch bei uns im ‹Goldenen Hecht› eine neue, faszinierende Dimension verleihen wird!»

Nach dem Dessert credenzt der Chef de Service einen Gushu Bai Cha Yuan aus dem Jahr 1993 und erkundigt sich, was mit Ernsts Handgelenk passiert sei. Ernst erzählt, wie Ernst in der Klosterbibliothek von einem Drachen angefallen worden sei. Da sagt der Chef de Service: «Das kenne ich. Diese Plage hatten wir hier auch.» Ernst ist perplex und sagt: «Ach ja?» Und der Chef de Service: «Dass wir geeiste Eibenbeeren servieren, kommt nicht von ungefähr. Unser Demichef de rang vergass neulich, die Eibenbeeren in den Kühlschrank zu stellen. Als wir am anderen Morgen in die Küche kamen, war eine Drächin mit ihren Kindern eben daran, die Beeren aufzufressen.» Ernst fragt: «Haben sie Feuer gespien?» Und der Chef de Service: «Wer? Wir?» Ernst lacht und sagt: «Nein, die Drachen natürlich.» Und der Chef de Service: «Feuer? Ach so … ja … also … wie das bei Drachen so üblich ist. Die Küche qualmte und wir mussten die Fenster öffnen. Aber da sage ich: ‹Das einfachste, diese Biester loszuwerden, ist, wenn wir ihnen Eibenbeeren mitsamt den giftigen Kernen auftischen!› Und so legen wir eine Schale rot leuchtender Eibenbeeren auf den Fenstersims. Das hätte Ernst sehen sollen! Es vergehen keine fünf Minuten, da kommen sie angeflogen! Es rauscht und zischt und faucht und raucht, dass es eine Freude ist!» Ernst fragt: «Und die Eibenbeeren?» Der Chef de Service klatscht in die Hände und ruft: «Es vergeht nicht mal eine Minute, da liegt der erste Dragolino auf dem Rücken! dann der zweite und der dritte! Ich traue meinen Augen nicht, aber das Drachenpaar beugt sich zärtlich über ihre Brut und ihre Zähren klatschen bitter zischend in die Feuerglut! Hélas![2] Doch da hilft alles nichts. Die Lindwurmfamilie wird grün, dann blau, dann rot, dann schwefelschwarz und – zack! – schon segnen alle das Zeitliche. Wir mussten einen Bagger bestellen, um ihre Cadaver zu entsorgen.» Ernst sagt: «Sapperlot!» Und der Chef de Service: «Das muss sich bei denen herumgesprochen haben. Fact ist: Seither haben wir Ruhe. Die Fratres sollten so was vielleicht auch mal probieren.»

Ernst ist erst spät wieder in Ernsts Klause, doch Ernsts Futon muss noch warten, denn Ernst hat Ernsts Gang zum ‹Goldenen Hecht› mit Ernsts Handy documentiert. Ernst lädt den Film auf Ernsts Laptop und schaut ihn zum Chill-out an.

 

 

Ernst bereut, nicht auch noch den ‹Goldenen Hecht› gefilmt zu haben, auch scheint es Ernst, dass mit den tiefhängenden Wolken und dem indigoblauen Himmel die Stimmung allzu melancholisch ausgefallen ist. Ernst ruft: «Was soll’s! Ernsts Film endet im fahlen Licht einer Strassenlampe, aber was danach kommt, das ist sans pareil!»


[1] Episode 29

[2] Ernst erkundigt Ernst, ob der Chef de Service ab und an auch Gedichte schreibe. Da sagt er: «Wenn mich die Gefühle übermannen, kommen die Musen angeflogen und küssen mich wie wild und mit ihnen kommen auch die Reime, die Poesie! Wes Herz voll ist, des Mund fliesst über.»