72 Wie Ernst von einem Drachen angefallen wird.

Ernst wird am frühen Nachmittag von Doña Adicción heimgesucht. Sie fährt in ihrer pflaumenblauen Luxuskarosse vor und faucht im Katastrophenunterton: «Wann hat denn unser Corazón das letzte Mal etwas Währschaftes gegessen?» Ernst senkt Ernsts Augen und murmelt: «Es tut Ernst leid.» Doña Adicción streicht Ernst über Ernsts Glatze und sagt: «Brav, brav, braver Ernst!» Und um ihren Zögling aufzuheitern, öffnet die Signoruzza ihre Bonbonniere und offeriert Ernst 1 Magnum Wollust. Ernst bewundert ihr Korallenkolljeh und ihre zaubrische Taille de guêpe und schleckert stillvernügt am pinkfarbenen Schokoüberzug. Da zischt’s und das Spukweib ist verschwunden. Doch Ernst spürt, wie sie Ernst noch in Ernsts Ohren liegt. Ernst hört gebannt zu, bewegt Ernst aber nicht. Dann sieht Ernst, wie sie ins Flugzeug steigt. Sie geht zum Captain, nimmt aus ihrer Chanel Vitalumière Loose Powderpuderbox den Minikabukipinsel und lehnt sich aus dem vom Abendrot hell erleuchteten Cockpit und winkt und winkt und grinst dazu wie die weltberühmte Cheshire Cat.

 

 

Ernst wirft das Eis weg und schlendert zur Klosterbibliothek. Ernst will wieder einmal einige Zeilen im altenglischen Epos Beowulf lesen, das Ernst als Anglistikstudent kennen gelernt hat. Ernst schlägt den Band aufs Geratewohl auf und trifft auf jene tragische Stelle, wo Beowulf auf den wyrm trifft, den Lindwurm, der sich wie ein Irrer auf den Helden stürzt und ihn mit wallenden Feuerschwaden einhüllt. Beowulf versucht sich mit seinem Schild zu schützen, doch der Schild ist aus Holz und beginnt zu brennen.

æfter ðám wordum / wyrm yrre cwóm
atol inwitgæst / óðre síðe
fýrwylmum fáh / fíonda níosan
láðra manna / lígýðum forborn
bord wið rond[1]

Ernst übersetzt Wort für Wort:

æfter ðám wordum / wyrm yrre cwóm
Nach diesen Worten / der Wurm irre kam

atol inwitgæst / óðre síðe
schrecklich verschlagener Gast / ein anderes Mal

fýrwylmum fáh / fíonda níosan
mit einem Feuerwalm gefärbt / feindlich hasserfüllt

láðra manna / lígýðum forborn
den verhassten Mannen / der Flammenwall verbrannte

bord wið rond
das Brett bis zum Rand

Ernst ist wie damals wieder Feuer und Flamme und liest laut:

Nach diesen Worten kam der Lindwurm wie ein Irrer hervor, dieser schrecklich verschlagene Gast, kam ein zweites Mal hervor, fauchte Flammen vor sich her, feindlich, feindlich, voller Hass auf die verhassten Menschen und verbrannte Ernsts Schild am Rand.

Als Ernst Ernst wieder über den Text beugt, hört Ernst, wie ein Fenster aufspringt. Ernst dreht Ernst um – zu spät! Der Drache hat Ernst aufgespürt und bläst Ernst aus den Nüstern seine Flammen entgegen. Noch gelingt es Ernst, Ernsts Arm vor Ernsts Augen zu halten, doch dann stürzt Ernst von Ernsts Stuhl und verliert Ernsts Besinnung.

Wie Ernst wieder zu Ernst kommt, bemerkt Ernst, dass jemand mit einer Taschenlampe in Ernsts Augen leuchtet. Frater Guillaume murmelt: «Keine commotio cerebri.» Dann zeigt er auf Ernsts rechte Hand und sagt: «Ernst hat Ernst bei Ernsts Sturz das Handgelenk verstaucht, es hätte auch zu einer Fraktur kommen können.» Ernst schaut benommen vor Ernst hin und fragt: «Und Ernsts Wellness Journal?» Der Klosterarzt lächelt und meint: «Das ist ja schon mal ein gutes Zeichen! Das Beste ist, wenn Ernst über Nacht im Monasterium bleibt und dann sehen wir morgen weiter.»


[1] Beowulf, Chapter XXXVI, 2669-2673