71 Was Ernst im Klostergarten erlebt.

Ernst geht zum Kreuzgang des Monasteriums und schaut einer Familie zu, die sich gegenseitig fotografiert: Der Bruder fotografiert seine Schwester, wie sie über einen Lavendelbusch springt, die Mutter fotografiert ihren Sohn, wie er das Rad auf dem Rasen schlägt, die Tochter fotografiert ihre Mutter, wie sie ein Salbeiblatt liebkost und die Gattin fotografiert ihren Gatten, wie er einen Apfel bewundert und Wasser aus der Brunnenröhre schlürft. Dann eilen sie zum Clostershop und holen eine Plastiktüte, um Kräuter zu sammeln. Das ist der Verkaufstrick, den sich Frater Felix erst neulich ausgedacht hat: Die Touristen dürfen selber Teekräuter pflücken, die dann von den Fratres im angeblich richtigen Verhältnis zusammengestellt werden. Besonders beliebt ist der Wellnesstee im semitransparenten, atmungsaktiven Pyramidenbeutel, mit Zitronelle, getrockneten Apfelstückli, Johanniskraut, Ysop, Schafgarbe und Zitronenthymian.

Als Ernst – wie zufällig – ebenfalls zum Clostershop hinüberschlendert, winken die Biberli & Co. Sie rufen:

Ernst nehme Ernst nichts vor und entspanne Ernst wieder mal so richtig! Ernst fühle Ernst ausgelassen, leidenschaftlich, frisky, passionate and untamed und vielleicht sogar ein bisschen wild. Ernst fühle Ernst einfach nur wohl! Ernst starte wieder durch und finde zu ernstselbst zurück![1]

Aber Ernst zeigt ihnen Ernsts kalte Schulter und um ihnen den Ernst der Lage zu demonstrieren, nimmt Ernst eine Tageszeitung, die die Touristen liegen gelassen haben und tut so, als ob Ernst einen interessanten Artikel studierte. Dann legt Ernst die Zeitung weg, setzt Ernst auf eine Bank und schaut ins milde Blau des Frühlinghimmels. Aber Biberli & Co geben nicht auf und rufen: «Unser Herr Ernst starrt wieder einmal Löcher in die Luft![2] Was sieht Ernst denn da so Interessantes? eine femme fatale? ein amuse bouche? oder vielleicht eine dieser gutmütigen Dschinniyas, die mit ihren Cumpaninnen in rauchlosen Feuersäulen bis vor die Himmelspforte fliegen, um die Gespräche der Engel zu belauschen?»[3] Ernst überlegt, wie Ernst Ernsts Plagegeister loswerden könnte. Dabei kommt Ernst die Email von Nordlicht in Ernsts Sinn.

 

Lieber Ernst,

die Löcher sehen sehr, sehr ernst aus. Bedrohlich. Kommen da Teile von Asteroiden auf uns zu?

Oder sind es die berüchtigten „schwarzen Löcher“, die alles einsaugen, was sich in der Nähe
befindet, auch alles Eßbare???

Bitte probiere bei schönem Wetter: leichte und tuffige Löcher in die Luft zu schauen, so
etwas wattiges,
fedriges, so ein Luftpolster vielleicht…

Ein wunderbares, sonniges, Frühlings – Wochenende wünscht Dir

Dein
Nordlicht

 

Ernst starrt also weiter in die Luft, guckt, starrt, guckt, starrt, guckt, starrt, guckt und starrt. Nichts. Niets. Nada. Nought. Niente. Nur das Geschrei von Biberli & Co. Aber justgenauda steht Ernst plötzlich auf einer Leiter und poliert Ernsts Sterne. Ernst braucht dazu Sigolin Standard mit Aktiv-Mineralien, das schon Ernsts Mutter für die Türfallen, das Silberbesteck und die Kerzenständer gebraucht hat. Dann hängt Ernst an jeden Stern 1 Teeei und schleckt an 1 Frisco Pralinato Classico – All Natural (mit den feinen Haselnüssen und dem knackigen Kakaokern, den Ernst ososehrsehr liebt). Dann bläst der Nordwind die Tür auf und neben Ernsts Bank wartet der arktische Seesäugerjäger Tschaplino vom Kap der grossen Erdhütte mit dem Oberarzt. Im kahlen Licht des Eismonds Quaoar schreibt er mit dem linken Zeigefinger das @-Zeichen in die Luft und schon öffnet die diensttuende Krankenschwester ihren Kimono und lässt die Choco Summsis[4] ausschwärmen. Dabei wird Ernst das Gefühl nicht los, dass beide, der Oberarzt und die Krankenschwester, Ernst bebeileiden. Doch Ernst muss Ernst wohl getäuscht haben, denn, nachdem die Krankenschwester Ernst beknixt hat und Ernst ihren Busen sehen konnte, erklärt Tschaplino die Harpunentechnik der Ymyjactach.[5] Er zeigt Ernst die Walfischallee mit den wildwuchernden Chupa Chups und die Felsbilder am Ufer des Pegtymel und misst dann plötzlich und kraftkräftig Ernsts Blutdruck und der Oberarzt sagt ½ emphatisch, ½ gelangweilt: «Systole 136, Diastole 78, Ernsts Blutdruck ist weder hoch noch hoch.» Da schnellt es Ernst hoch und Ernst rennt zum Clostershop, aus dem 1 süsssüsslicher Singsang an Ernst Ohr dringt:

Our nada who art in nada, nada be thy name thy kingdom nada thy will be nada in nada as it is in nada. Give us this nada our daily nada and nada us our nada as we nada our nadas and nada us not into nada but deliver us from nada; pues nada. Hail nothing full of nothing, nothing is with thee.[6]

Der Nordwind reisst die Tür auf und Ernst ruft: «Ist da wer?» Aber der Clostershop ist leer und Ernst sitzt noch immer auf der Bank und hält ein Biberli in Ernsts Hand. Ernst wirft es in das erstbeste Luftloch und schlendert zurück zu Ernsts Kastanienklause, wo Ernst Ernst mit einem Anji Baicha auf Ernsts Balkon setzt und gedankenverloren über den Fluss schaut. Da sieht Ernst den Abendstern. Ernst ruft: «Die Venus!»

Sie taucht aus letzten Strahlen auf, glänzt sinkend mehr und mehr und geht unter. Venus. Weiter. Aufrecht und steif bleibt Ernst in zunehmendem Dunkel sitzen. Ganz in Schwarz.[7]


[1] Werbebrochure, Hotel & Restaurant Morteratsch, Pontresina

[2] Episode 63

[3] Episode 31

[4] Episode 49

[5] A. M. Leskov & H. Müller-Beck (Hrsg.), Arktische Waljäger vor 3000 Jahren

[6] Ernest Miller Hemingway, A Clean, Well-Lighted Place

[7] Elle émerge des derniers rayons et de plus en plus brillante décline et abîme à sont tour. Vénus. Encore. Droite et raide elle reste là dans l’ombre croissante. Tout de noir vêtue. Samuel Beckett, Mal dit mal vu – Schlecht gesehen schlecht gesagt, aus dem Französischen von Elmar Tophoven