45 Ernst wird Zeuge einer nächtlichen Prozession.

Ernst sieht, wie mehrere Männer zum Fluss hinuntersteigen. Sie tragen bodenlange Kutten und auf jeder Capuze brennt eine Kerze. Sie murmeln:

Allein, in mich versenkt, durch ödes Land
die Schritte messend, geh ich langsam hin
und richte meinen fluchtbereiten Sinn
auf jede Fussspur, die mich schreckt im Sand.[1]

Kein Zweifel: Das sind die Fratres! Zuvorderst ist Frater Felix mit einer grossen Tafel, auf der ICQ[2] steht. Obwohl Ernst ziemlich weit von der Gruppe entfernt ist, kann Ernst auch das Kleingedruckte lesen:

Dragonfruit Mojo Vitaminwater!
Wird von führenden Superhelden empfohlen!

Jetzt sind die Fratres beim Fluss angekommen und schreiten im Gänsemarsch über das Wasser. In ihrer Mitte ist Maria Bernada Sobeirons. Sie trägt eine Wollmütze und singt (von Frater Melchior mehr schlecht als recht begleitet) das Ave Maria von Schubert.[3] Auf ihrer linken Sandale leuchtet die giftrote Eibenbeere und die Taille ihres semitransparenten Scapuliers ziert der lourdesblaue Gürtel, sonst ist sie nackt. Auch sie schreitet problemlos über das Wasser. Ernst traut Ernsts Augen nicht und holt Ernsts Operngucker. Da sieht Ernst, dass Bernada und die Fratres auf den alten Pfählen gehen, die beim jetzigen Wasserstand knapp unter der Wasseroberfläche verborgen sind, so dass es aussieht, als ob sie über das Wasser glitten. Auf der Schotterbank, die in der Mitte des Flusses aus dem Wasser ragt, ruft Frater Iacob:

Ullahbluh! I’ve heard it sinse sung thousandtimes![4]

Das ist das Zeichen, um die krausen, hellen Borsten des schwalbenbäuchigen Wollschweins mit Salz und Meil d’aviöls aus Puntraschigna zu bestreichen. Dann wird das Bonfire entfacht und die Capuzenmänner tanzen jodelnd um Maria Bernada Sobeirons und das in seinem Fett wild flackernde Wollschwein und Frater Felix ruft con fuoco:

On devient cuisinier, mais on naît rôtisseur.[5]

Zum Bratgut werden Paun da fixs, Züpfe (cloystermade) und Bohnensalat serviert und schon beisst Ernst auf 1 Knoblauchzehe, die einer der Fratres heimtückisch unter die Bohnen gemischt hat. Ernst muss alles hinausspeien und stolpert dabei über die ICQ-Leuchttafel. Ernst hat das Gefühl, von Dracula persönlich beobachtet zu werden und hofft, dass der Knoblauch als Exorzismus wirkt. Ernst haucht in Ernsts hohle Hand, aber da mahnt Maria Bernada: «No nasty niffs now!» Schnell schlürft Ernst 3 Schluck still perlendes Mineralwasser und isst zum Neutralisieren 1 Scheibe Züpfe, aber der Knoblauchgeruch ist stärker. Zum Glück sieht Ernst auf der Balkonbrüstung One Munz Big Mouse Fondant, die schaurigsüsse Schokomaus, die Ernst erst neulich als Notration in die Schublade des Küchentisches gelegt hat. Sie irrlichtert und brilliert und wie Ernst mit Ernsts Fingernagel das ananasgelbe Silberpapier wegkratzt und der Maus hinterrücks den Kopf abbeisst, johlen die Fratres alla zingarese:

Sieh vorwärts, Ernstli, und nicht hinter dich![6]

Ernst legt den Operngucker weg und sieht, wie sich die Fratres zu einem Gruppenbild aufstellen. Maria Bernada macht von der illustren Gruppe eine Aufnahme (Ernst sieht deutlich, wie es blitzt), dann ruft jemand: «This is a Bakerloo Line Train! Take your seats!». Sie stürzen sich in den erstbesten Wagon, wo Maria Bernada das Schiebefenster öffnet und Verdis Addio, del passato anstimmt.[7] Bei den Worten Le rose del volto già son pallenti fährt die U-Bahn von der Schotterbank los und stiehlt sich im Fluss davon. Noch sieht Ernst die Lichter unter dem Wasser flimmern, ja, es gelingt Ernst sogar mit Ernsts Handy 1 Aufnahme zu machen. Aber dann ist alles vorbei und Ernst flüstert voller Wehmut: «Partir c’est mourir un peu.»[8]

 

 


[1] Solo e pensoso i più deserti campi / vo mesurando a passi tardi lenti, / et gli occhi per fuggire intenti / ove vestigio human l’arena stampi. Francesco Petrarca, Canzoniere, Sonetto XXXV, aus: Ich bin im Sommer Eis, im Winter Feuer, Übersetzung Karlheinz Stierle

[2] I seek you.

[3] https://www.youtube.com/watch?v=sE1WoMocTlw

[4] James Joyce, Finnegans Wake, 339, 338. Ohlalahl! Ich hört’ den Singsang schon 1000 Mal. Übersetzung Ernst.

[5] Man lernt Koch, das Grillen jedoch wird einem in die Wiege gelegt. Jean Anthelme Brillat-Savarin, Physiologie du goût ou méditations de gastronomie transcendente, 15. Fundamentalsatz, Übersetzung Ernst

[6] Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, I/2

[7] Addio, del passato bei sogni ridenti, / le rose del volto già sono pallenti. Lebt wohl, ihr lachenden Träume, die einst mich umfangen / Verblasst sind die Rosen der Wangen. Giuseppe Verdi, Traviata, atto terza, https://www.youtube.com/watch?v=CUvKF7sQFpk

[8] Nocetti Giovanna, Chanson de l’Adieu, Edmond Haraucourt / F. Paolo Tosti, https://www.youtube.com/watch?v=slHBQJb4Dno