44 Was Ernst im Kreuzgang erlebt und wie er eine unwirtliche Email beantwortet.

On ne trompe pas l’envie.[1]

Ernst fragt Ernst, wie lange Ernst nicht mehr bei den Fratres gewesen ist. Aber warum hätte Ernsts ins Refektorium gehen sollen? Der Klosterkoch versorgt Ernst schon seit langem mit dem Nötigsten. Heute Morgen brachte er (um nur dieses Beispiel zu nennen) Schokoladenmousse und ein Glas Honigtauhonig – kaltgeschleudert! Und was Ernst besonders gefällt: Frater Felix arrangiert die Esswaren oft als kleine Kunstwerke, fast als ob es Gemälde von Willem Claesz oder Adriaen Coorte wären. Und hat er nicht Recht? Das Auge isst mit! Sein Leitspruch ist:

Man lebt nicht um zu essen, sondern um gut zu essen.[2]

Wie Madame Debienne die Schokoladenmousse sieht, schmeisst sie sie in den Abfall. Ernst schaut später nach, aber die Mousse ist schmierig geworden und hat sich mit den übrigen Abfällen vermischt. In mancanza d’altro isst Ernst 2 Scheiben Knäckebrot mit Salzbutter und much Akazienhonig und 1 luftige Brioche (cloystermade). Somit kommt Ernst zu Ernsts parola tertia:

WAS DER GESUNDHEIT AUSREICHT,
IST DEM VERGNÜGEN ZU WENIG.[3]

Am Nachmittag kommt das sinkende Gefühl und Ernst kauft im Clostershop 1 Cookie triple chocolate und 1 Ham & Cheddar Sandwich with Dijon mustard mayo on soft malted grain bread. Auf der Packung steht: Attention! Power lunch! This sandwich can change Ernst’s life. Dann lehnt Ernst Ernst an eine Säule und beobachtet die Touristen. Ernst stellt fest, dass sie zuerst gar nicht den Kreuzgang, sondern den Clostershop besuchen, wo sie ihren Kindern Wellness-, Energy- und Lifestyle Drinks und Donuts und Brioches und Brownies und Blaubeer-Muffins kaufen. Ernst ruft: «Quel joli coup de théâtre!»

Wie aber, wenn mit all den Kindern, die es sich gewohnt sind, dass ihnen schon im Kinderwagen die Erdbeerconfitüre eines Berliner Pfannkuchens vom Kinn auf die Patschhand tropft, eine neue Zeit eingeläutet würde? Eine Zeit, wo die fixen Mahlzeiten obsolet geworden sind und man in der Grauzone isst und Capri-Sun[4] trinkt? So gesehen, gehörte Ernst mit dem Cookie triple chocolate und dem 452 kcal-Power-Lunch-Sandwich zur kulinarischen Avantgarde!

Jetzt erinnert Ernst Ernst an eine Ausstellung über Essen und Trinken in der Antike, wo gezeigt wurde, dass es in den römischen Mietskasernen oft keine Kochgelegenheit gab. Man ass draussen auf der Strasse, in den Thermopolien oder unterwegs in Garküchen. Ernsts Hang zur Grauzone ist also nicht nur durch die Moderne, sondern auch durch die Antike legitimiert! Und könnte es nicht auch sein, dass feste Mahlzeiten eingeführt wurden, um das Volk zu disziplinieren und zu überwachen: Schlafen, essen, schuften, essen, schuften, essen, schlafen. Wer diese kollektiv verordnete Abfolge mit flexiblen und individuell gestalteten Essenszeiten unterwandert, ist suspekt, faul, asozial und gefährdet den Staat.

 

 

Vorsicht. Zimmert Ernst Ernst mit diesem Ausflug in die Antike und dem Blick in die modernen Kinderwagen nicht einfach eine bequeme Hütte zurecht? Denn so viel steht fest: Ernst fühlt Ernst wie ein Radrennfahrer, der nach mehrmaliger Tempoverschärfung der Gegner aus dem Sattel geht, um mit einer letzten Kraftanstrengung die Lücke zu schliessen, dann aber ausgepumpt auf den Sattel zurückfällt und endgültig abreissen lassen muss.

Am Abend entdeckt Ernst in Ernsts Briefcase noch 1 Email. Ernst vermutet, dass es sich um einen weiteren Beitrag zum Haus des Dentisten handelt und überlegt, ob Ernst die Email öffnen soll, doch sie wirkt auf Ernst wie 1 Schokolade: Ernst muss sie öffnen.

 

Sehr geehrter Herr Ernst

Ich stelle (ohne Erstaunen) fest, dass sich alle Kommentare auf Handfestes beziehen: ein Stuhl, eine verrostete Schraube, dürre Äste, das Piepsen eines Vogels. Deshalb finde ich es an der Zeit, etwas zum Nichtmateriellen zu sagen, denn es ist für mich klar, dass es sich hier um ein Ritual handelt, das (wie für rituelle Handlungen üblich) in drei Teilen abläuft:

1. Le rite d’entrée
Herr Ernst trinkt einen Schluck vom Affenkönigtee und beschwört so den Teufelsboten und die ‹spinnige Crew› des hl. Antonius herauf. Nach dem zweiten Schluck schleckt Herr Ernst am ewigen Eis der Schöpfung und – aller guten Dinge sind drei – nach dem dritten Schluck macht er sich auf den Weg.

2. Le rite de passage
Herr Ernst geht mutig und (wie es seine Art ist) ziemlich unbesonnen ins Souterrain, was ja wörtlich ‹unter der Erde› heisst und somit ein signifikanter Hinweis ist, dass Herr Ernst in sein Unterbewusstsein hinabsteigt. Dort trifft er auf seinen Schatten und macht kehrt, weil das (noch) zu viel für ihn ist. Das heisst, eine Integration mit seinen dunklen Seiten übersteigt seine Kräfte und er ergreift die Flucht nach vorn – oder doch eher nach hinten: dorthin, wo es Herrn Ernst mit seinen eingefressenen Essgewohnheiten schon immer am wohlsten war.

3. Le rite de sortie
Herr Ernst sucht nach einem Ausgang oder wie er es sich gewohnt ist: nach einem unverfänglichen Ausweg aus seiner Neurose. Und notabene: Genau da bricht der Ritus ab!

Fazit: Solange sich Herr Ernst seinen Schattenseiten nicht stellt, findet er nicht aus diesem Teufelskreis heraus. Ich rate Herrn Ernst deshalb dringend, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen und mit einem erfahrenen Psychoanalytiker ein Gespräch zu suchen.

Ich habe in dieser Email absichtlich alles Leid und Mitleid weggelassen und zwar nicht, weil ich dazu nicht fähig wäre, sondern weil ich der Ansicht bin, dass Herr Ernst nur dann mit seinen Problemen umzugehen lernt, wenn er ihnen schonungslos ins Auge sieht.

Mit einem herzlichen und empathischen Gruss

Dr. med. U. Andersch

 

Sehr geehrter Herr Dr. Andersch

When they were yung and easily freudened.[5]

Auf den ersten Blick schien es Ernst, einen waschechten Jungianer vor Ernst zu haben, doch diese dürfen sich bekanntlich nicht Psychoanalytiker, sondern ‹nur› analytische Psychologen nennen und so vermutet Ernst, dass der Schatten eines Freudianers von altem Schrot und Korn auf Ernst gefallen ist. Ernst nimmt an, dass Sie sich mit Ernsts Art, an gewissen Stellen ein ‹signifikantes› Zitat zu placieren, bereits angefreundet haben und antwortet Ihnen deshalb – erstens – mit Ludwig Wittgenstein, der mit der Offenheit, die vielen seiner Tagebuchnotizen eigen ist, notiert hat: «Freud irrt sich gewiss sehr oft & was seinen Charakter betrifft, so ist er wohl ein Schwein oder etwas ähnliches.»[6]

Wittgenstein warnt seine Studierenden, sich vor den verhängnisvollen Verlockungen der bezirzenden Methode zu hüten und sagt – zweitens: «Die Psychoanalyse ist eine gefährliche und unsaubere Methode, die unendlich viel Schaden angerichtet und vergleichsweise wenig Gutes getan hat. Freud steckt voller fragwürdiger Gedanken, und sein Reiz und der Reiz seines Themas sind so gross, dass man leicht darauf hereinfällt[7] und er hat durch seine phantastischen pseudo-Erklärungen (gerade weil sie geistreich sind) einen schlimmen Dienst erwiesen. Jeder Esel hat diese Bilder nun zur Hand, mit ihrer Hilfe Krankheitserscheinungen zu ‹erklären›.»[8] Ernst möchte hier noch anfügen, dass sich Wittgenstein mit einer derartigen Vehemenz sonst nur über die Schädlichkeit einer falschen Philosophie zu äussern pflegte.

Da Ihnen offensichtlich viel daran gelegen ist, die Handlungsabläufe in einem Dreierschritt darzustellen und die Möglichkeit besteht, dass Sie weder Freudianer noch Jungianer, sondern ein einfacher Psychiater sind, empfiehlt Ihnen Ernst – drittens – noch folgendes Zitat: «Die Psychiatrie! Wer mit der Psychiatrie paktiert, erklärt sich bankerott. Der Mensch fängt überhaupt erst dort an, wo sie nicht hinkommt.»[9]

Ernst grüsst Sie unprätentiös & ernst
Ernst

PS
Ernst wird den Verdacht nicht los, dass Sie sich bei Ernst als Psychoanalytiker empfehlen wollen, der weiss, wie man mit derartigen Neurosen ‹umgehen› muss. Ernst empfiehlt Ihnen deshalb, Ernst in Zukunft ganz einfach grossflächig zu ‹umgehen›.


[1] Lust kann nicht überlistet werden. Marie d’Agoult, Nélida, Cinquième partie, XXIII, Übersetzung Ernst

[2] Jean Anthelme Brillat-Savarin, Physiologie du goût ou méditations de gastronomie transcendente: 2. Fundamentalsatz der Gastronomie

[3] Nam quod saluti satis est, delectatione parum est. Augustinus von Hippo, Confessiones, Liber 10, Caput XXXI/44, Übersetzung Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch

[4] Das einzigartige Mehrfruchtsaftgetränk mit mind. 10% Fruchtgehalt! Mit Quellwasser, Orangensaft, Apfelsaft, Maracujasaft, Kiwisaft, Ananassaft, Grapefruitsaft, Limettensaft, Bananensaft, Zucker, Säurungsmittel, Citronensäure, natürlichen Aromen, Vitamin C, Antioxidationsmitteln, Ascorbinsäure, Niacin, Vitamin E, Vitamin B6, Biotin, Vitamin B12, Glukose-Fructose-Sirup (aus Mehrfruchtsaftconzentrat)

[5] James Joyce, Finnegans Wake, 115

[6] Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen, Tagebucheintrag [9] vom 27. April 1930

[7] zit. aus: Norman Malcolm, Erinnerungen an Wittgenstein, 161

[8] Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Eine Auswahl aus dem Nachlass, Notiz vom 31.10.1946

[9] Hans Erich Nossack, Unmögliche Beweisaufnahme