34 Wie sich Ernst im Netz der Normalität verheddert.

Ernst realisiert, dass sich Ernsts Leben schon seit Jahren in einer immerwährenden Vorläufigkeit abspielt. Wenn Ernst normal und regelmässig isst oder wenn Ernst fleissig ist, tut es Ernst, nicht weil Ernst fortan normal essen oder fleissig arbeiten möchte, sondern Ernst betrachtet es als ein Transitorium, das zum Glück früher oder später zu Ende geht. Und wenn Madame Debienne Ernst mit dem 1 Kilogramm-Honigtopf aus dem Diemtigtal erwischt, ist Ernst erstaunt und wird wütend, dass sie Ernsts Vorsatz, den Honigkonsum zu reduzieren, als Dauerzustand versteht.

Ernst hat jene seltenen Fälle, wo Ernst Ernsts Idealgewicht erreicht hat, noch nie als Neubeginn, sondern immer nur als ballastfreie Zone genutzt, wo der flache Bauch nach Herzenslust wieder aufgefüllt werden kann. Das ist denn auch der wahre Grund für den berüchtigten Jo-Jo-Effekt, der – Ernsts Meinung nach – nicht durch die Diät hervorgerufen wird, sondern durch Ernsts Sorglosigkeit, mit der Ernst die Finissage der Fastenzeit feiert.

Dazu kommt, dass Ernst alles Ordentliche zuwider ist. Wenn Ernst Ernst vorstellt, nie mehr uncontrolliert und unbeherrscht essen zu dürfen, wird Ernst bang und bänger. Ernst denkt an die verschiedenen Liebesarten: amour-goût, amour-vanité, amour-passion – und das soll jetzt für Ernst auf culinarischer Ebene vorbei sein? Nie wieder 1 kleines amuse-bouche? Ernst nie mehr gehen lassen? Nie wieder heiter und spontan über Ernsts Stränge hauen?

Ernst verfällt in 1 dumpfes Brüten und befürchtet, dass man Ernst ein kostbares Privileg wegnehmen will: die Rebellion: la désobéissance: das Privileg, Ernst nicht den bürgerlichen Gepflogenheiten zu unterwerfen. Aber genau so: mit der pubertären Auflehnung gegen alles Geordnete und Anständige ist Ernst zum Spiessbürger geworden: fett, mittelmässig und langweilig. Das Fazit ist nicht erstaunlich:

Ernst hat Ernst satt.[1]


[1] Jean Paul, Ideen-Gewimmel, Texte aus dem Nachlass: Ich habe mich satt. [382]