29 Wie Ernst zur tausendjährigen Eibe pilgert und voller Hoffnung das Jahr ausklingen lässt.

Ernst möchte eine Wanderung zu einer Eibe machen, die von Ernsts Eremitage aus in einer guten Stunde zu Fuss erreicht werden kann. Ernst fragt im Monasterium nach dem Weg. Frater Iacob sagt: «Ernst gehe nach dem Reisfeld nach links, dann bis zum Friedhof geradeaus, dann wieder links, dann steigt der Weg bis zu einem Strommast steil an. Ernst kommt auf ein kleines, ebenes Feld, an dessen Ende linkerhand eine Holzbank steht und rechts ein Bauernhof – dort ist die Eibe. Aber Vorsicht! Ernst weiss hoffentlich, dass der Kern der Eibenbeere giftig ist? Eibenbeeren können ein Pferd töten!»

Da es über Nacht geschneit hat, zieht Ernst Ernsts Gamaschen an und macht Ernst auf den Weg. Zuerst geht alles gut. Ernst schlendert dem Reisfeld entlang, lässt den Friedhof hinter Ernst und bewältigt auch die Steigung bis zum Strommast ohne Probleme. Aber dann, wie Ernst auf dem kleinen, ebenen Feld steht, beginnt Ernst plötzlich zu keuchen. Ernst ist, als ob Ernst ohne Sauerstoffgerät die letzten Höhenmeter des K2 bewältigen müsste. Weg, Wald und Luft werden dunstig und eine milchig weisser Schleier senkt sich über Ernsts Augen. Ernst schwankt und muss Ernst hinsetzen.

Ernst denkt an Ernsts Essexzesse und schwört, ab sofort Vernunft anzunehmen. Dann denkt Ernst an Frater Iacob, der Ernst darauf hingewiesen hat, dass die Eibe von den Einheimischen als Tor zur Unterwelt verehrt wird. Keucht Ernst also auch deshalb? weil Ernst das Gedämpf, das aus dem Inferno in Ernsts Lungen dringt, zu schaffen macht?

Ernst entschliesst Ernst, die letzten Meter von Ernsts Gang zur Eibe zu filmen. Man weiss ja nie. Möglich wäre, dass Ernst nicht wieder … und dann wäre Ernsts Film ein Hinweis, wo und weshalb. Ernst steht also wieder auf und stapft, Ernst kräftig Ernsts Nase schnäuzend, auf dem ½ gefrorenen Schnee auf die Eibe zu.

 

 

Ernst lebt zwar im 21. Jahrhundert, aber in Ernsts Seele sieht es anders aus: Ernst ist abergläubisch. Mit andern Worten: Wie Ernst in die Eibe tritt, beruhigt sich Ernsts Atem und Ernst muss an Ernsts Urgrossmutter Anna Elisabeth denken, die hier vielleicht auch schon Zuflucht gesucht hat?

Ernst findet den keltischen Aberglauben sehr vernünftig, nach dem die Seelen der Lieben, die Ernst verlassen haben, in irgendein Wesen untergeordneter Art gebannt bleiben, ein Tier, eine Pflanze, ein unbelebtes Ding, tatsächlich verloren für Ernst bis zu jenem Tag, der für viele niemals kommt, an dem Ernst zufällig an dem Baum vorübergeht oder in den Besitz des Dinges gelangt, in dem sie eingeschlossen sind. Dann horchen sie bebend auf, rufen Ernst an, und sobald Ernst sie erkennt, ist der Zauber gebrochen. Erlöst durch Ernst, besiegen sie den Tod und kehren zu Ernst ins Leben zurück.[1]

Während Ernsts Blick dem faltigen Stamm entlang zur Krone gleitet, hört Ernst ein Flirren, als ob jemand auf einem Ross durch die Luft reiten würde. Ernst ruft:

Hvat þar flýgr
Bvat þar ferr
Eða at lopti líðr?[2]

Kaum ist Ernsts Ruf verklungen, hört Ernst ein dumpfes Rauschen. Ernst dreht Ernst um. Wie ist das nur möglich? Ernst steht in der immergrünen Eibe und schon liegt 1 Meter Schnee vor Ernst. Ernst nimmt den Schnee in Ernsts Hände und versucht 1 Schneeball zu formen. Vergeblich, es ist Pulverschnee. Powder snow? Das war für Ernst schon immer power snow! Da fühlt Ernst Ernst mit Ernsts Schlenderschritt so richtig in Ernsts Element. Und so dreht Ernst Ernsts Oberkörper im Pulverschnee nach Norden und dreht gleichzeitig Ernsts rechtes Bein im Pulverschnee nach Süden, dann dreht Ernst Ernsts Oberkörper im Pulverschnee nach Süden und dreht Ernsts linkes Bein im Pulverschnee nach Norden und kommt so problemlos zurück zu Ernsts Kastanienklause.[3]

Bei einer Tasse Tee lässt Ernst Ernsts Ausflug noch einmal Revue passieren. Ernst ist überzeugt, dass das Erlebnis in der Eibe die lang erhoffte Wende bedeutet und Ernsts Esssorgen jetzt endlich hinter Ernst liegen. Und trifft sich das nicht auch bestens mit dem Jahr, das bald zu Ende geht? Ernst wird also zunächst einmal einige Tage ausspannen und Ernst erst nach dem Dreikönigsfest wieder in Ernsts Aufgaben reinknien, um dann Ernsts Essreform (die in letzter Zeit leider etwas ins Stocken geraten ist) erneut in Schwung zu bringen.


[1] Je trouve très raisonnable la croyance celtique que les âmes de ceux que nous avons perdus sont captives dans quelque être inférieur, dans une bête, un végétal, une chose inanimée, perdues en effet pour nous jusqu’au jour, qui pour beaucoup ne vient jamais, où nous nous trouvons passer près de l’arbre, entrer en possession de l’objet qui est leur prison. Alors elles tressaillent, nous appellent, et sitôt que nous les avons reconnues, l’enchantement est brisé. Délivrées par nous, elles ont vaincu la mort et reviennent vivre avec nous. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu (l’épisode de la madeleine), übersetzt von Luzius Keller

[2] «Was fliegt dort? / Was bewegt sich dort? / Was schwebt durch die Luft?» Da antwortet Gná: «Ich fliege nicht, / doch bewege ich mich / und schwebe durch die Luft / auf Hófvarpnir.» Snorri Sturluson, Gylfaginning, Kap. 35, aus dem Altisländischen übersetzt von Gottfried Lorenz

[3] Ernst hat in Episode 4 der Einfachheit halber das englische Original weggelassen und holt das jetzt nach: Watt’s way of advancing due east, for example, was to turn his bust as far as possible towards the north and at the same time to fling out his right leg as far as possible towards the south, and then to turn his bust as far as possible towards the south and at the same time to fling out his right leg as far as possible towards the north, and so on, over and over again, many many times, until he reached his destination, and could sit down. Samuel Beckett, Watt, Chapt. I