19 Was die Aprikosen singen und wie Ernst an die Grenze seiner Belastbarkeit kommt.

Ernst n’a jamais été à Beauchamps.
Il n’y a pas de route pour y aller.
C’est un petit village, perdu dans les prés.[1]

Ernst steht früh auf und nimmt als Erstes Ernsts Herumschlendern unter die Lupe. Natürlich ist es schön, am Morgen nach links und am Nachmittag nach rechts abzuzweigen, aber da erhebt sich halt doch die Frage: «Ist Ernst auf einem Holzweg? Wo sind Ernsts Wegweiser? Was ist der richtige Weg? Wo ist der Weg, den Ernst gehen zu können glaubt?»

Confuzius sagte: «Ist unter dem Himmel der Weg vorhanden, dann ist Ernst sichtbar; ist der Weg nicht vorhanden, dann verbirgt Ernst Ernst.»[2]

Hält Ernst Ernst deshalb in Ernsts Einsiedeley verborgen? Weil kein Weg vorhanden ist? Ernst betrachtet 3 Fliegen, die in Ernsts Refugium ihre Bahnen ziehen. Wie sähe Ernsts Welt aus, wenn Ernst Ernst mit den Facettenaugen einer Fliege betrachten könnte? Kommt Ernst Ernsts Weg nur deshalb so verwirrlich vor, weil Ernst die richtigen Augen fehlen? Ah é! Denn es ist doch ganz einfach: Ernst will die 84-Kilogramm-Anzeige nicht mehr sehen und wird deshalb heute schlankweg nichts mehr essen. Nix, nada, nisba! Das, so meint Ernst, sollte Ernst nicht allzu schwer fallen.

Weit gefehlt! Denn das sinkende Gefühl, das vor 200 Jahren von der 7th Duchess of Bedford ins Leben gerufen wurde, ist noch immer munter und steuert gerade jetzt auf Ernsts Eremitage zu. Ernst ruft assai vivace: «Away, away!» Zu spät! Das sinkende Gefühl ist smoothly durch den handbreit geöffneten Türspalt geschlüpft und offeriert ihrem Zögling erst mal etwas Gesundes. Und schon isst Ernst 1 pelzigen Weinbergpfirsich, 50 g Lincolnshire Poacher (the supreme champ of all cheeses) und 1 Knäckebrot mit Leinsamen. Dann liegt vor Ernsts Augen auch noch 1 portugiesische Pfirsche (gross, rund, gelbgrünlich, auf der Sonnenseite dunkelroth, zartwollig) und da steht auch schon 1 Korb mit kobaltgrünen Reineclauden.

wer ist die birne und wo atmet die zitrone?
was sagt die aprikose in welcher sprache?[3]

Das sinkende Gefühl blickt Ernst von der Seite an und sieht, wie Ernsts Widerstand schmilzt. Das ist der richtige Zeitpunkt, um Ernsts Laschheit weiter zu unterhöhlen!

Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen.[4]

Undnunundnun und auch weil das sinkende Gefühl Ernsts Hang zu den Namen der marillenwangigen Aprikosen kennt, trällert es:

Kuresia, Luizet, Marena … ♪ … Bergeron … ♪♪♪ … Temperao de Vila Franca, Niedersulzer Pfirsichmarille … ♫ … ♬♬♬ … Mombacher Frühe … ♪ … Frühe Rosenmarille, Schmelzende von Gaweinstal, Vinschgermarille … ♬♬ ♫ … Ungarische Beste …♩♩ … ♪♪♪♪ … Schwarze Alexandrinermarille … ♩ … Hargrand, Orangered … ♫ … Ananasmarille … ♩♩♩ … ♬ … früher roter Ingelheimer …

Ernst hört gebannt zu und merkt nicht, wie die Haferflockenbiskwis aus der veilchenverzierten Blechdose springen und sich der Kühlschrank öffnet und das Knäckebrot mit Salzbutter und Marillenmarmelade bestrichen wird. Ernst hört nur ein flimmerndes Geräusch und ruft gedankenverloren: «Da szintilliert was in Ernsts Küch’!» Und das sinkende Gefühl echot quasi scherzando:

Waker oats and buttermore with murmurladen.[5]

Dann – mit dem Zeigefinger vor den Lippen und mit zwei unterschiedlich zwinkernden Augen, einmal zwinkert das linke, dann zwinkert das rechte, dann zwinkert wieder das rechte und dann zwinkert das linke – zeigt das sinkende Gefühl in die Richtung, wo die Katzenzüngli sind und die Leibniz Choco Edelherb. Ernst gibt leichten Herzens nach und ruft:

EJN jglichs hat seine zeit
vnd alles fürnemen vnter dem Himel hat seine stund.[6]

Am Abend schlägt Ernst noch einmal Ernsts Wellness Journal auf. Mit Kuresia, Luizet und Marena poetisieren und mit den Marmeladen murmeln – das war schon immer das untrüglichen Zeichen, dass Ernst mit Ernsts Essen partu nicht Ernst machen will. Ernst ist 1 Fantast, 1 Schummler und 1 Utopist, der mit den Musen segelt und nicht sieht, wie das Gesunde vor Ernst Augen liegt.

Wie leicht bewegt Ernst Ernst im Grossen & im Fernen,
Wie schwer fasst Ernst, was nah und einzeln, an.[7]


[1] Eugène Ionesco, Journal en miettes

[2] Chang Tsai, Rechtes Auflichten – Cheng-meng, XI

[3] Yoko Tawada, Abenteuer der Deutschen Grammatik

[4] Harro von Senger, Die Kunst der List, Stratagem 10

[5] James Joyce, Finnegans Wake, 586f.

[6] Prediger 3.1, Übersetzung Martin Luther 1545, Letzter Hand

[7] Franz Grillparzer, Epigramme, Abt. I, Bd. XII/1, 86