16 Wie sich Ernst mit dem Sorites-Paradox die Zeit vertreibt.

Schlafe falsche Flasche[1]

Ernst hat vom Clostershop 4 Flaschen Mineralwasser zu Ernsts Eremitage getragen: 4 x 1,5 Kilogramm = 6 Kilogramm. Das ist Ernsts Übergewicht – regelmässig über Ernsts Körper verteilt, so dass es kaum auffällt, aber es ist da. Um Ernst keine falschen Hoffnungen zu machen, stellt Ernst Ernst vor, dass man Ernst immer nach dem Schlafen 4 volle anderthalbliter Flaschen um Ernsts Hals hängt. Ernst spürt, wie Ernsts Herz in Ernsts Hose rutscht und Ernst ruft: «Das darf Ernst nicht mehr tolerieren!» Dieser Meinung sind auch Madame Surchauffeur, Dr. phil. Fill und Signorina Cardiopalmo. Und sie sind es denn auch, die Ernst auffordern, über Ernsts Bücher zu gehen. Ernst recapituliert 2 x 3 Punkte.

– Kefir ist 1 No-Go.
– Ernsts Hang zu Rahm ist Gift.
– Jede Feige ist 1 Calorienbombe, die Ernst als Leuchtrakete zum Platzen bringen kann.

– Ernst ist 1 Naschkatze.
– Ernst isst besinnungslos.
– Ernsts Essensmisere hat nichts mit Wissen zu tun.

Daraus folgt: Ernsts Esstheater spielt sich nicht in Ernsts Kopf ab. Aber wo denn sonst, wenn nicht dort? Doch selbst wenn Ernsts Kopf mitbeteiligt wäre, wie umsetzungsfreudig wäre Ernst bezüglich allfälliger Einsichten? Weil Ernst die Antwort verborgen bleibt, sitzt Ernst bis tief in die Nacht auf Ernsts Balkon und litaniert nochmals 2 x 3 Punkte.

– Rahm ist schädlich.
– Zucker ist Gift.
– Milch macht Männer mal müd, mal matt.

– Ernsts Nusssucht ist bedenklich.
– Ernsts Hang zu sweetlysüssen Knabbereien ist verwerflich.
– Ernsts Verhalten beraubt Ernst jeder Glaubwürdigkeit.

Doch auch diese Leierei bringt Ernst nicht weiter. Es ist, als ob Ernst in einem Paternoster stünde und es nicht wagte, aus der ständig in der gleichen Richtung umlaufenden Kabine wieder herauszuspringen.

Irgendwann ist Ernst eingestiegen, um in irgendeiner Etage wieder auszusteigen. Das war Ernsts Absicht. Ernst muss es wohl genau gewusst haben warum, und wohin Ernst wollte. Auf jeden Fall aufwärts! Es schien Ernst alles selbstverständlich. Aber das ist längst vergessen; Ernst kann sich auf keine Weise mehr daran erinnern, und es hat auch keinen Sinn mehr. Ernst denkt nur: Wäre Ernst doch nie eingestiegen! Was hat Ernst bloss dazu verführt? Beim Einsteigen hat Ernst übrigens nicht bemerkt, dass der Paternoster so schnell fährt, sonst wäre Ernst gewiss nicht eingestiegen.[2]

Ernst isst zur Ablenkung eine Handvoll Korinthen, die sich (wie Ernst auf der Verpackung liest) fürs Müsli und zum Backen eignen oder einfach aus der Tüte genascht werden können. Vorsicht. Eine Handvoll? Wie viel ist das? Ernst füllt Ernsts Hand noch einmal mit Korinthen und kippt sie auf den Tisch. Dann nimmt Ernst 1 Korinthe weg und begutachtet den Korinthenhaufen. Ist das noch immer eine Handvoll? Dann nimmt Ernst wieder 1 weg und betrachtet den Haufen. Kein Zweifel. Auch das ist noch immer eine Handvoll. Wie aber wäre es, wenn Ernst vom Korinthenhaufen wieder und wieder 1 Korinthe wegnähme, bis nur noch 1 übrigbliebe? Wäre dann diese 1 Korinthe noch immer eine Handvoll? Und wie wäre es, wenn Ernst diese letzte Korinthe aufässe? Wäre womöglich auch keine Korinthe eine Handvoll?

Da Ernst das Problem mit Nachdenken nicht lösen kann, füllt Ernst Ernsts Hand ein drittes Mal mit Korinthen. Von diesem Haufen isst Ernst 1 Korinthe und legt 1 zur Seite. Dann isst Ernst wieder 1 und legt 1 zur Seite. Dann isst Ernst eine dritte und legt 1 zur Seite und zwar so, dass sie mit den 2 anderen eine Linie bildet. Bei der zehnten bemerkt Ernst, dass die Korinthen (die jetzt schnurgerade vor Ernst auf dem Tisch liegen) noch immer keinen Haufen bilden. Ernst isst nochmals 10 und verlängert die Linie um 10, aber ein Haufen sieht anders aus. Ernst folgert: Um einen Haufen zu bilden, müssen die Korinthen in die Höhe wachsen. Ernst schiebt die Linie also zu einem Haufen zusammen, isst Korinthe um Korinthe und legt Korinthe um Korinthe zur Seite, bis die Korinthen einen kleinen Berg bilden. Ernst schreckt hoch. Ernst hat 3 Haufen und den kleinen Berg gegessen. Das sind gut und gern 100 Gramm Korinthen! Und schon glaubt Ernst, von 1 Korinthe 1 Kilogramm zugenommen zu haben. Ernst ruft: «Tzu, tzu, tzu!» Ernst lauscht. Ernst ruft: «Halli!» und «Hallo!» Jetzt glaubt Ernst eine Stimme zu hören und Ernst ruft: «Wer da?» Aber es bleibt still. Um besser hören zu können, schliesst Ernst Ernsts Augen.

Wie Ernst Ernsts Augen wieder aufschlägt, ist es dunkel geworden. Wie ist das nur möglich? Als Ernst die erste Handvoll Korinthen auf Ernsts Tisch kippte, war es drei Uhr und jetzt soll es Nacht sein? Ernst starrt in die dunkle Klause und merkt, dass es auch in ernstselbst dunkel geworden ist. Ernst ist bestürzt und ruft: «Warum muss Ernst das durchmachen?» Ernst horcht 3 Minuten in die Dunkelheit hinaus – still, so still, dass Ernst eine Stecknadel fallen hören könnte. Jetzt ruft Ernst: «Kann Ernst denn nicht vernünftig leben?» Ernst horcht 3 Minuten in Ernsts Dunkelheit hinein – pas une mouche qui vole! Ernst ruft: «Isst Ernst umnachtet?» Da hört Ernst einen tonlosen Knall. Ernst springt auf, zündet eine Kerze an, öffnet Ernsts Wellness Journal und schreibt:

Alle Anstrengungen sind auf den Kampf mit der Undurchdringlichkeit und Lichtlosigkeit des Ortes gerichtet. Sprechen ist hier so notwendig wie Fackeln in der Höhle.[3]

Ernst bläst die Kerze aus und folgt dem Rauch, der den verglühenden Docht verlässt. Ernst riecht den Rauch und ruft: «Für Ernst gibt es keinen Mittelweg. Für Ernst gibt es nur fasten oder festen – feast or fast. Somit kommt Ernst zu Ernsts parola secunda:

ERNST FÄLLT ENTHALTSAMKEIT LEICHTER ALS MÄSSIGUNG.[4]


[1] Unica Zürn, Annagramme

[2] Hans Erich Nossack, Unmögliche Beweisaufnahme

[3] Ossip Mandelstam, Gespräch Über Dante, Kap. II

[4] Quoniam quaedam absciduntur facilius animo quam temperantur, Lucius Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, Liber IX, 108/16